Ich quäle mich aus meinem Bett und stolpere langsam ins Bad. Eigentlich musste ich schon seit ein paar Stunden mal auf die Toilette, war aber von den nächtlichen Blutzuckerkontrollen zu müde um mich aufzurappeln.
Meistens vergesse ich morgens auf den Streifen zu pieseln um Urinzucker und Ketone zu testen, deshalb legt meine Mutter das Metallröllchen mit den Teststreifen schon am Abend vorher in Sichtweite auf den kleinen Hocker neben dem Klo. Die Testfelder auf dem Streifen verfärben sich kräftig grün und lila. Mittlerweile weiß ich, dass das für den Blutzucker nichts Gutes bedeutet.
Mein Blutzuckermessgerät liegt in der Küche auf dem alten Küchenschrank. Ich pfriemle das Messgerät von der Größe eines Pfund Butter aus der Lederhülle und schalte es erstmal an. Dann ramme ich mir mit der Stechhilfe ohne Stechtiefeneinstellung die Nadel in den Finger. Manchmal nutze ich dafür auch einzeln verpackte Metalllanzetten, die aber dann meist nur für Blutentnahmen am Ohrläppchen.
Ich quetsche einen riesen Tropfen Blut aus meinem Finger und balanciere ihn über der Auftragsfläche des Teststreifens. Plöpp, mal wieder geht die Hälfte daneben, aber immerhin genug auf dem Testfeld. Mit einem weiteren Klick starte in den Countdown des Reflolux Blutzuckergerätes und warte geduldig eine Minute, bis ich das Blut mit einem Wattebausch abwischen, und den Streifen ins Gerät schieben kann. Jetzt heißt es wieder eine Minute warten, bis das Ergebnis auf dem Display erscheint. 310mg/dl. Nur wenig überraschend. Mit Nüchternwerten habe ich so meine Probleme. Mein Arzt hat gesagt, das sei ein klassisches Dawn Phänomen. wenn ich dran denke, trage ich den Blutzuckerwert in mein Diabetes Tagebuch ein. Ansonsten übernimmt meine Mutter das für mich.
Ich hole meine beiden Insuline Velasulin H und Insulatard H aus dem Kühlschrank, rolle das Insulatard brav einen Moment zwischen meinen Handflächen hin und her, und ziehe mir meine Morgendosis mit einer Einwegspritze auf. Frühstück gibt es später, Insulin muss ja erstmal wirken. Und das dauert.
Mein zweites Frühstück esse ich in der Schulpause. Feste Menge, fast jeden Tag das gleiche, feste Uhrzeit. Das dritte Frühstück schiebe ich mir um Punkt 11 Uhr mitten im Unterricht rein. Jeden Tag. Hunger habe ich nicht. Aber das Insulin ist nun mal drin. Die Aufmerksamkeit habe ich mal wieder bei mir. Denn meine Klassenkameraden dürfen im Unterricht natürlich nicht essen und zählen mir jeden Happen von meinem Joghurt in den Mund. Es klingelt zur Pause vor dem Mittag. Während meine beste Freundin einen Kakao trinkt und sich eine Milchschnitte in den Mund schiebt, knabbere ich ein paar Gurkenscheiben. „Echte“ Süßigkeiten habe ich seit meiner Diagnose nicht mehr gegessen und die „Diabetiker-Süßigkeiten“ schmecken mehr als bescheiden und sind eh nur für meine Nachmittagsmahlzeit eingeplant.
Um 13:15 Uhr ist die Schule aus. Ich haste zum Bus. Auf der Heimfahrt fühle ich mich komisch und krame meine überdimensionalen Messutensilien aus meiner fiesen Bauchtasche hervor. Auf meine Aussage „Ich hab weiche Knie“ greift meine Sitznachbarin mir ans Knie und guckt mich fragend an.
Mir fällt es noch sehr schwer, dieses für mich auch noch sehr neue Gefühl einer Unterzuckerung zu beschreiben.
Also ich nach Haus komme, steht das Mittagessen bereits auf dem Tisch. Es gibt Linsensuppe. Wirken sich positiv auf den Blutzucker aus. Davon mal abgesehen mag ich die tatsächlich sehr gern. Zum Nachtisch Götterspeise mit Süßstoff zubereitet. Und einem Klecks Sahne drauf.
Das Telefon klingelt. Dr. K., mein Diabetologe. Ich war am Vortag bei ihm in der Diabetesambulanz. HbA1c, Besprechung der Blutzuckerwerte, menschliche Gespräche. Dr. K. gibt den HbA1c immer einen Tag später persönlich per Telefon durch, sobald er die Werte aus dem Krankenhaus Labor hat. 7,8%. Nicht ideal, aber er ist zufrieden mit mir. Nicht einer dieser HbA1c-Nazis. Er lobt mich, dass ich das alles prima hinbekomme mit dem Diabetes und spricht auch meinen Eltern immer wieder motivierend zu. Ich mag Dr. K. wirklich sehr und gehe wirklich gern zur regelmäßigen Kontrolle. Dr. K. beantwortet geduldig alle Fragen, hört zu, hat immer einen Witz auf Lager und bestärkt mich seit meiner Diagnose darin, dass mir der Diabetes niemals im Weg stehen soll. (Ein paar Jahre später wird er übrigens mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet.)
Nach dem Telefonat erledige ich schnell meine Hausaufgaben und packe meinen Rucksack. Ich bin auf eine Geburtstagsparty einer Klassenkameradin eingeladen. Meine Mutter hat in einer Tupperdose eine Art Kuchen für mich vorbereitet. Ein auf Nüssen basierter Teig mit einer Quarkfüllung. Ich mag die Nussrolle, die so gut wie keine Kohlenhydrate hat und gut in meinen festen BE Plan passt. Aber natürlich hätte ich irgendwie schon lieber ein Stück Schokotorte. So wie die anderen. In einer weiteren Tupperdose habe ich Wackelpudding dabei, in einer anderen Cherry Tomaten und saure Gurken für zwischendurch, wenn die anderen sich auf Gummibärchen und Co stürzen. Manchmal komme ich mir schon ein wenig blöd vor, mein Tupperdosen Arsenal vor der anderen auszupacken. Ich mag es nicht sonderlich gern, wenn die anderen glotzen.
Beim Schaumkuss-Wettessen bin ich natürlich raus. Zum Abendbrot gibt es Pommes und Würstchen. Für mich gibt es in diesem Fall zum Glück keine Extrawurst, einzig meine Pommes wiege ich gründlich auf meiner mitgebrachten Waage ab. Meine Mutter hat mir auf einem Zettel aufgeschrieben, wieviel Gramm Pommes ich essen darf. Außerdem ist ein Esslöffel Ketchup erlaubt.
Rechtzeitig vor dem Essen muss ich spritzen. Das Aufziehen mache ich von Anfang an so oft es geht allein. Erst das Velasulin in die Spritze, dann das Insulatard. Nicht anderes herum. Die anderen gucken interessiert zu, aber auch schnell wieder weg sobald ich mein T-shirt hebe und mir die Spritze in den Bauch gebe. „Boah, ich könnte das nicht“ kommentieren einige. Naja, mir bleibt nichts Anderes übrig.
Als ich am Abend wieder zu Haus bin, fange ich plötzlich stark an zu schwitzen und meine Lippen beginnen zu kribbeln, die Knie zu zittern. Meine Mutter bemerkt, dass ich undeutlich spreche. Ratzfatz steht sie auch schon mit dem Ziegelstein aka Blutzuckermessgerät und einem Glas Apfelsaft neben mir. Das war wohl etwas viel Rumgetobe am Nachmittag.
Erschöpft falle ich am Abend in die Federn und weiß schon jetzt, dass meine Mutter heute Nacht mit aller Wahrscheinlichkeit noch einmal den Blutzucker bei mir messen wird. Manchmal merke ich das, manchmal aber auch nicht. Genauso wie meine Hypos.
Der Wecker klingelt, wie jeden Tag, viel zu früh. Auch am Wochenende. Und wieder beginnt ein neuer Tag. Ein Tag der relativ durchgeplant ist. Ein Tag mit Typ-1 Diabetes Anfang der 90er.